Liminal
Lilian Nachtigall
Moving Grounds #4
Lilian Nachtigall (*2000) absolvierte ihr Studium der Bildenden Künste in der Bildhauereiklasse bei Prof. Karsten Konrad an der Universität der Künste Berlin. Ihre Arbeiten, die zunächst als raumbezogene Werke in einem Werkstättenraum der UdK entstanden, entwickeln sich zu einer prozessualen Ausstellung, die den Raum des B-Part Exhibition einnimmt. „Moving Grounds“ ist ein Format, das Künstlerinnen die Möglichkeit bietet, eigenständig Projekte zu realisieren, die gleichzeitig in einen Dialog mit den übergeordneten Themen des Gesamtprojektes treten: neue urbane Formen und zukünftige Modelle des Lebens und Arbeitens. Innerhalb von „Moving Grounds“ entstehen über mehrere Tage hinweg neue Prototypen des urbanen Raums, die in ihren prozessualen und offenen Formen die Wechselwirkungen zwischen künstlerischer Praxis, kulturellen und sozialen Ansätzen hinterfragen.
Nachtigalls Arbeiten, bestehend aus modularen Skulpturen und raumgreifenden Installationen, greifen das Prinzip des Arbeitsraums auf und erforschen es auf der Ebene der Bildhauerei. Die Arbeiten fungieren sowohl als autonome Skulpturen als auch als räumliche Reflexionen der spezifischen architektonischen Gegebenheiten des Werkstatt- und Ausstellungsraums, in dem sie entstanden sind. Im Kontext von „Moving Grounds“ entwickelt sich eine künstlerische Praxis, die sich der Architektur und den Elementen des B-Part Exhibition annähert. Dabei transformiert sich der Arbeitsprozess in eine Ausstellungssituation und stellt das Prinzip des Schwellenzustands in den Mittelpunkt. Nachtigall arbeitet vor allem mit Rigips und Trockenbaumaterialien, die nicht nur im tatsächlichen Raumbau verwendet werden, sondern deren Materialität auch den Charakter und die Farbwelt der Werkstatt und des Ausstellungsraums zitieren. Ihre Werke schweben zwischen den nachahmenden Elementen von Modellen und dem tatsächlichen Baubezug.
Ergänzend zu den skulpturalen und installativen Arbeiten wird „Liminal“ durch eine filmische Komponente erweitert. Die modularen Raumskulpturen und Kameraschienen ahmen das Prinzip eines Filmsets nach und sind gleichzeitig in die Praxis der Kameraarbeit eingebunden. Der entstandene Film dient sowohl als Dokumentation der Ausstellung im Werkstattraum der UdK als auch als eigenständige filmische Untersuchung von Raum. Nachtigalls Raumskulpturen beziehen sich dabei auf die temporäre Struktur des B-Part Gebäudes, das – ebenso wie ihre Arbeiten – Teil der prozesshaften städtebaulichen Entwicklung der Urbanen Mitte am Gleisdreieckpark ist. Das Gebäude ist modular und rückbaubar, was die Beziehung zwischen Raum und Zeit in ihrer Arbeit unterstreicht.
Der Begriff der Liminalität (lat. limen = Schwelle) beschreibt einen Übergangs- oder Schwellenzustand, in dem neue Möglichkeiten eröffnet werden, gleichzeitig jedoch Unsicherheiten entstehen können. Der Begriff wurde erstmals in der Ethnologie verwendet und geht auf Arnold van Genneps Publikation Les Rites des Passages (1909) zurück. Van Gennep definierte Übergänge zwischen Lebensphasen oder sozialen Status als „liminal“. Der Anthropologe Victor Turner prägte den Begriff weiter und betrachtete liminale Räume als solche, die jenseits etablierter sozialer Ordnungen existieren und Verhaltensweisen ermöglichen, die von der Gesellschaft als irrational, amoralisch oder anarchisch gelten.
In der Pop- und Internetkultur tauchten Liminal Spaces seit 2019 in sozialen Medien und Foren als Phänomen auf: Bilder von menschenleeren, aber doch menschen-gemachten Orten, die eine verstörende, fast traumhafte Atmosphäre ausstrahlen – leere Büroräume, verlassene Hotelzimmer, oder Supermärkte, die an „Off-Spaces“ erinnern. Diese Orte sind weder vollständig fremd noch vollständig vertraut; sie wirken unheimlich und gleichzeitig faszinierend. In Film und Malerei finden sich ähnliche Konzepte, etwa in Stanley Kubricks Aufnahmen leerer Hotelgänge in The Shining, der mystischen Black Lodge in David Lynchs Twin Peaks oder den menschenleeren urbanen Räumen in Edward Hoppers Gemälden.
Nachtigalls Arbeiten bewegen sich ebenfalls in diesen liminalen Zwischenzuständen. Sie oszillieren zwischen Modell und Skulptur, zwischen dem prozessualen Arbeitsraum und der Ausstellung als fertigem Produkt. Ihre Werke liegen zwischen Werkstattcharakter und künstlerischer Installation, zwischen der Reduktion auf formale Prinzipien und der Detailgenauigkeit des handwerklichen Prozesses.
Der Ausstellungsraum B-Part Exhibition begleitet die künftige Entwicklung der Urbanen Mitte Am Gleisdreieck mit künstlerischer Autonomie und tritt somit zugleich in einen Dialog mit den übergeordneten Themen des Gesamtprojekts – Formen des New Work, Co-working, Kultur und Sport – und schafft Synergien zwischen künstlerischen, kulturellen und sozialen Ansätzen. Künstlerischer Leiter des B-Part Exhibition ist Rüdiger Lange (loop – raum für aktuelle kunst).